Das wirkliche Leben by Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben by Adeline Dieudonné

Autor:Adeline Dieudonné
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
veröffentlicht: 2020-07-15T00:00:00+00:00


In meinem Zimmer legte ich mich ins Bett und stellte mir vor, was gewesen wäre, wenn sich seine Lippen auf meine gelegt hätten. Und seine Hände auf meinen Körper. Ich wusste, dass ich das nicht denken durfte, dass es etwas Schlechtes war. Aber während ich so mit offenen Augen vom Champion träumte, trieb mein Geist weit, weit weg von der Hyäne und für einen kurzen Augenblick vergaß ich sogar, dass es sie gab.

Am Tag darauf ging ich zu Professor Pawlović. Im kleinen Salon lief wieder das Radio und erneut fragte ich mich, wer sich dort wohl befand.

Der Professor führte mich ins Esszimmer, wo er schon Tee für uns aufgegossen hatte.

»Also, was willst du wissen?«

Mich packte Schwindel. Ich hatte keine Ahnung, womit ich anfangen sollte. Ich hatte nicht gedacht, dass ich so viele Fragen zur Quantenphysik haben könnte. Und so begann unsere erste Stunde völlig chaotisch: Ich fragte, der Professor begann zu erklären, schrieb etwas an seine weiße Tafel, und noch bevor er fertig war, fragte ich schon nach etwas anderem. Wie ein ausgehungertes Kind, das sich in der Vitrine einer Konditorei alles aussuchen durfte.

In der Schule wurde mein Wissenshunger nie auch nur annähernd gestillt. Jede Tür, die ich aufstoßen wollte, verriegelten die Lehrer durch ihre Ignoranz. In Professor Pawlović hatte ich endlich jemanden gefunden, der mir geduldig alle Türen öffnete und mich in die riesigen Wissensgebiete blicken ließ, die es zu entdecken galt. Ich merkte schnell, dass diese Reisen in die Wissenschaft ein beiderseitiges Vergnügen waren. Wenn der Professor über ein physikalisches Phänomen sprach, wirkte er wie ein Schauspieler auf der Bühne; er fiel fast in Trance, berauscht von seiner Leidenschaft.

Er lehrte mich nicht nur Physik an sich, sondern brachte mir auch die Lebensgeschichten der bedeutendsten Naturwissenschaftler nahe. Er erzählte mir gerade etwas über das Leben von Isaac Newton, als sich im dunklen Flur, der vom Esszimmer abging, etwas bewegte.

Als die Gestalt aus dem Halbdunkel in den Raum trat, musste ich einen Aufschrei unterdrücken. Es war eine alte Frau in einem blau-weiß karierten Schlafanzug – doch anstelle eines Gesichts war nur eine Maske zu sehen. Eine Maske aus Gips mit einem aufgemalten Lächeln um die roten Lippen, hohlen Augen, geschmückt mit Federn und Pailletten. Ein starres, glattes, ewig junges Gesicht über dem klapprigen Körper einer Greisin.

»Yaëlle, wir haben eine neue Schülerin«, sagte der Professor, und dann an mich gewandt: »Das ist Yaëlle. Meine Frau.«

Sie nickte mir zu. Ihre Augen hinter den beiden schwarzen Löchern waren nicht zu erkennen. Sie öffnete eine Dose, die auf der Anrichte stand, nahm ein paar Kekse heraus und wollte mir einen geben.

Schnell schüttelte ich den Kopf.

»Nein, danke.«

Wortlos drehte sie sich um und schlurfte zurück ins Wohnzimmer, wobei jeder ihrer Schritte sie unendlich viel Kraft zu kosten schien.



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